Müssen Pädagog*innen in Haltungsfragen zum Orthopäden? Oder: Pädagogische Haltung in Kindergarten und Schule.
Gerade bin ich im Osterurlaub und verbringe diesen mit Spaziergängen mit herrlichem Ausblick auf die nahen Berge und vielen Lesestunden auf der Terrasse. Mit im Gepäck habe ich ein wunderbares Buch, das mich nun schon einige Tage lang begleitet und mir immer wieder Stoff zum Nachdenken gibt: Haltung. Ein Praxisbuch für mehr Professionalität im pädagogischen Alltag von Katrin Halfmann. Dieses Buch setzt sich mit Themen auseinander, die mir in der Supervision mit Pädagog*innen häufig begegnen und die auch viele der Kolleg*innen in den Kindergärten, Horten und Schulen beschäftigen.
Was ich über Pädagogische Haltung denke und warum Kolleg*innen in ihrer Arbeit oft durch innere Wertekonflikte ausgebremst werden?
Katrin Halfmann spricht mir aus der Seele, wenn sie sagt, dass es unmöglich ist, keine Haltung zu haben. Haltungen haben wir immer, zu allen Dingen, Menschen, Situationen. Ähnlich einer Meinung, geht die Haltung noch tiefer, sie ist quasi unser persönliches Sammelsurium von Werten, Einstellungen, Überzeugungen, Erfahrungen, Bindungserlebnissen, persönlichen Krisen, Prägung durch Vorbilder, gesellschaftlichen Normen etc.
Haltung wird auch bestimmt und definiert durch unsere inneren Leitsätze und Glaubenssätze, oft sprechen diese mit den Stimmen unserer kindlichen Bezugspersonen und sagen so Dinge wie „Das gehört sich nicht!“ oder „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“.
Haltungen begegnen uns überall, nicht nur im pädagogischen Kontext, mal sind sie uns mehr bewusst, mal weniger. Sie sind ein Orientierungspunkt, ein Wegweiser in vielen Situationen, sie geben uns Sicherheit und Halt.
Aber was macht nun eine Haltung zu einer professionellen Haltung? Und warum ist es mir so wichtig, dass sich Pädagog*innen und Lehrer*innen ihrer professionellen, pädagogischen Haltung bewusst sind?
Die Kindheitsforscherin Iris Netnwig-Gesemann definiert Pädagogische Haltung wie folgt:
„Mit dem Terminus ‚professionelle Haltung‘ sind (…) konkret Orientierungsmuster im Sinne von handlungsleitenden (ethisch-moralischen) Wertorientierungen, Normen, Deutungsmustern und Einstellungen gemeint, die pädagogische Fachkräfte in ihre Arbeit und Gestaltung der Beziehungen einbringen. Das Bild vom Kind und das eigene professionelle Rollen- und Selbstverständnis gehören im Kern zu dieser Haltung“
Pädagogische Haltung bezieht sich also auf die pädagogische Aufgabe und die eigene Rolle, und die persönliche Sichtweise darauf. Was sieht der*die Pädagog*in als die eigentliche Aufgabe an, was weniger? Sieht sich die Pädagogin mehr als Erfüllerin des Erziehungsauftrages, oder als fürsorgliche Vertraute der Kinder? Betrachtet es der Lehrer als seine Hauptaufgabe, ein Fundament an Bildung zu übermitteln, oder geht es ihm mehr darum, die Kinder für den Alltag lebenskompetent zu machen? Betrachtet es die Horterzieherin als ihre Aufgabe, mit den Kindern nach der Hausübung Lesen zu üben, oder fällt das für sie nicht in ihren Aufgabenbereich?
Wofür sieht sich der Kindergärtner verantwortlich? Sieht er es als seine Aufgabe, die Kinder in der Lösung von Konflikten zu begleiten und zu unterstützen, oder können und sollen die Kinder das seiner Auffassung nach auch alleine? Vielleicht sieht er es aber auch als seine Verantwortung, Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen, oder diese für die Kinder zu lösen?
Auch das Bild vom Kind spielt eine wesentliche Rolle. Wird das Kind als jemand gesehen, der Führung und Leitung braucht, als hilfsbedürftig, als lebenskompetent, als Freund*in, als Störenfried? Ist das Kind nach der individuellen Auffassung der Pädagog*in ein Partner mit Mitspracherecht, ist es jemand der sich unterordnen sollte, welchen Stellenwert bekommen Bedürfnisse der Kinder? Wird ihnen zugetraut, diese erkennen und äußern zu können, oder wird davon ausgegangen, dass der*die Pädagog*in weiß, was gut für die Kinder ist? Wird Partizipation im Kindergarten aus Überzeugung gelebt, oder als vom System vorgegebenes notwendiges Übel angesehen, welches erfüllt werden muss?
Und dann gibt es da noch die vielen inneren Anteile, die auch ihr Wörtchen in der Haltungsfrage mitreden wollen. In jeder alltäglichen Kindergartensituation zeigen sie sich, die Rollen und Anteile, gepaart mit den bereits vorher erwähnten Werten, Normen und Erfahrungen. Da meldet sich vielleicht die innere Pädagogin, der innere Pädagoge, die ständig an den Erziehungsauftrag denken, oder die Freundschafts-Stimme, die am liebsten mit allen Kindern der Gruppe befreundet wäre. „Ich will mitspielen!“, schreit hingegen die Kinderstimme, und will dann plötzlich unbedingt gewinnen. In vielen Situationen meldet sich ein fürsorglicher Anteil, der tröstet, vertrauliche Gespräche führt und den Kindern als verlässlicher Wegbegleiter zur Seite stehen möchte. Hier und da ist es vielleicht die innere Abenteurerin, die mit den Kindern auf Entdeckungsreise gehen möchte, oder die Strenge, die Grenzen einfordert, der Angestellten-Anteil der es der Leitung recht machen möchte. Und manchmal zeigen sich auch die für uns auf den ersten Blick ungeliebten Anteile, wie der ewig empörte Teil, der findet, dass ja eigentlich alles eine ganz schöne Zumutung ist, oder auch die gestresste Stimme, die nie Zeit für irgendwas hat.
Eingebunden sind diese höchstpersönlichen, individuellen Sichtweisen, Haltungen, Moralvorstellungen und inneren Anteile in das umgebende System, also die Normen und Werte der Trägerorganisation, die Haltung der Leitung und der Kolleg*innen, die Erwartungen der Eltern, die gesetzlichen Vorgaben, die aktuellen gesellschaftlichen Werte. Galt es in den 70ern noch als pädagogisch wertvoll, Kinder schreien zu lassen, ist dies heute weitgehend eher verpönt. Politik und Medien prägen ein gesellschaftliches Bild von Erziehung und von der*dem guten Pädagog*in oder Lehrer*in.
Gibt es eine richtige Haltung und eine falsche Haltung?
Wir wissen nun also bereits, dass die Entwicklung einer individuellen pädagogischen Haltung von Werten, moralischen Überzeugungen und berufsethischen Prinzipien geprägt ist und von historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Strömungen beeinflusst wird. Jedoch ist die Haltung etwas höchstpersönliches, individuelles, und im Allgemeinen kann es hier kaum ein „richtig“ oder „falsch“ geben, haben wir doch alle unterschiedliche Werte und Sichtweisen, die uns leiten und unser Verständnis von richtig und falsch prägen.
Dinge, die wir heute berechtigterweise als falsch ansehen, wie die „gesunde Watsche“, waren vor einigen Generationen noch als „richtig“ angesehen. Im Großen und Ganzen bleibt es der Pädagogin, dem Pädagogen, selbst überlassen, was für sie oder ihn die richtige Haltung ist. Als verbindliche Grenze zwischen „richtig“ und „falsch“ gelten hier natürlich gesetzliche Grundlagen, wie die Fürsorgepflicht, die Aufsichtspflicht und die Verpflichtung zur gewaltfreien Erziehung. Als grundlegender Orientierungsrahmen, innerhalb dessen sich “richtige“ pädagogische Haltung bewegen sollte, werden gemeinhin die Unicef-Kinderrechte gesehen.
Von der Haltung zum Inneren Konflikt
Gerät nun das öffentliche Wertebild und die institutionelle pädagogische Erwartungshaltung mit dem persönlichen Wertebild und der persönlichen Haltung in manchen Fragen in Konflikt, spürt die betroffene Person einen inneren Zwiespalt, ein Unbehagen oder Unzufriedenheit, bis hin zu kaum mehr aushaltbaren Gefühlen der inneren Zerrissenheit. Die Arbeitszufriedenheit sinkt, vielleicht auch die Arbeitsleistung. Immer wieder begegnen mir in der Supervision Kolleg*innen, die sich fragen, wie sie mit diesen inneren Wertekonflikten umgehen sollen und die dann mit mir gemeinsam an der Auflösung dieser Konflikte arbeiten.
Der Philosoph Andreas Urs Sommer geht davon aus, dass sich Haltung erst im Austausch und in der Begegnung mit anderen, und in der Reibung mit anderen, formt. Erst wenn es sich „reibt“, wenn Haltung herausgefordert, hinterfragt, vielleicht sogar kritisiert wird, wird man sich ihrer noch mehr bewusst, hinterfragt und reflektiert sie, überprüft ob, und wenn ja warum, sie persönlich noch stimmig ist. Vielleicht bestätigt sich in dieser Reibung die eigene Haltung, vielleicht wird sie aber auch angepasst und weiterentwickelt.
Was können Pädagog*innen zur Professionalisierung ihrer Haltung beitragen - oder: Müssen Pädagog*innen mit Haltungsfragen zum Orthopäden?
Selbstreflexion, das Nachdenken über die eigenen Erziehungserfahrungen, die eigenen Normen, Werte und Leitsätze sowie der Austausch und Diskurs über diese Sichtweisen erweitern die Perspektive und festigen die Haltung. Und auch wenn in Haltungsfragen sehr oft die Orthopädische Praxis die erste Anlaufstelle ist, empfehle ich in diesen speziellen Haltungsfragen eher kollegiale Beratung und Supervision, wo diese Reflexion professionell angeleitet wird und eine Erweiterung der Perspektiven und ein Festigen der Haltung ermöglicht.
Wenn ich mit Pädagog*innen aus Kindergarten oder Schule arbeite, ist die Betrachtung der eigenen Haltung, eine Auseinandersetzung mit den eigenen Werten, mit Glaubenssätzen und Leitbildern oft eines unserer Kernthemen, ganz nach dem Motto „Finde deinen inneren Pädagogen, deine innere Pädagogin.“ Auch die Aufarbeitung innerer Wertekonflikte oder das Vermitteln zwischen den vielen inneren Pädagog*innenstimmen, dem Inneren Team, geschieht häufig bei mir in der Supervision.
Die pädagogische Haltung der Pädagog*innen und Lehrer*innen bestimmt das Gruppen- oder Klassenklima, es bestimmt, ob sich Kinder wohlfühlen, wertgeschätzt und ernstgenommen fühlen und beeinflusst dadurch auch nachhaltig die Entwicklung der Kinder.
Durch selbstreflektiertes Arbeiten und professionelle Auseinandersetzung mit dem eigenen pädagogischen Handeln und der eigenen Haltung tragen Pädagog*innen zur Qualitätssicherung der pädagogischen Arbeit bei, und deswegen ist mir die Supervision mit Pädagog*innen auch so ein Herzensanliegen.
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